Furyu-Gasshuku in Schellerhau, 25.-29.Mai 2022

Die Leere: Gesamtheit des Möglichen

Am Anfang der Karate-Form Kushankû / Kankû gibt es eine Bewegung, bei der der Kampfkunstübende mit seinen Händen ein Dreieck bildet und in den Himmel schaut. Was sieht er da? Nichts? Nimmt der Übende, die Bewegung überhaut wahr? Oder sieht er den Himmel, die Wolken, einen Vogel, der vorbei fliegt… Oder sieht er die Leere, eine Leere, in der es Platz gibt für alle Möglichkeiten, die Gesamtheit der Dinge, das ganze Universum? Dieses Dreieck kann der Übende auch auf einer Wiese mit seinen tanbô bilden. Was sieht er da? Gräser in unterschiedlicher Höhe, Blumen in verschieden Farben, Insekten, das Wesentliche, das Offensichtliche… oder auch die Entwicklung der Pusteblume, das Werden und Vergehen, einen Mikrokosmos, der in sich genausoviel Potential trägt, wie das große, ganze Universum? Fragen über Fragen. Schade, dass das Gasshuku schon vorbei ist. Vielleicht hätte sich noch eine Möglichkeit für ein Gespräch ergeben während des Gasshuku, anstatt ein Brettspiel zu spielen, aber vielleicht brauchte es auch Ablenkung von einem Thema, um zu einem späteren Zeitpunkt nochm einmal auf dieses zurückzukommen… vielen Dank an alle, die dazu beigetragen haben, dass das Gasshuku stattfinden konnte, dass es so reichlich und abwechslungsreich zu essen gab, für die Gespräche und Anregungen, die Trainings, das Lernen außerhalb des Trainings, zum Beispiel beim Musizieren, und die gemeinsame Zeit. Zeit ist für mich das Kostbarste, was wir haben, und gemeinsame Zeit, das Schönste, was es gibt. Anja Wobst

Es war wieder soweit. Am verlängerten Himmelfahrtswochenende fand von Mittwoch bis Sonntag das 23. Furyu-Gasshuku, diesmal wieder in Schellerhau, statt. Wie jedes Jahr wurde zusammen im Freien trainiert, es wurde gemeinsam gekocht, gegessen, gesungen, und natürlich tauschte man sich untereinander aus. Dennoch ist auch jedes Trainingslager einzigartig. Einzigartig, in dem, was thematisiert wird, aber auch wer mittrainiert. So gab es in diesem Jahr eine extrem heterogene Gruppe. Männer und Frauen, Groß und Klein, mit 30 Jahren Kampfkunsterfahrung oder erst mit einigen Monaten. Außerdem wird es auch von jedem dieser Personen unterschiedlich wahrgenommen. Genau das beschäftigte wohl uns alle in diesem Jahr. Wie nehme ich meine Umgebung, meine Mitmenschen oder sogar mich selber wahr? Wie unterscheidet sich diese Sicht jedes Individuums? Haben alle den Specht gehört, welcher gegen einen Baum klopfte, als alle in einem Kreis standen und die Kushankû / Kankû liefen? Was verspüre ich selber, wenn ich 30 Sekunden in ein und derselben Position verharre oder 10 Minuten auf das gleiche Stück Wiese schaue? Langeweile? Anstrengung? Oder ist es ein anderes Gefühl, kann ich vielleicht begreifen, was das gerade in mir auslöst und warum ich genau das gerade tue? Wahrscheinlich gibt es darauf mehrere Antworten, denn wenn mehr als 15 Trainierende dies tun, werden wahrscheinlich auch dementsprechend viele verschiedene Gefühle und Gedanken eine Rolle spielen. Jeder wird sich etwas anderes gedacht haben und man kann nur erahnen, was in dem anderen vorging. Vielleicht wird man es ja in Zukunft noch einmal erfahren, wenn alle diese Momente noch einmal Revue passieren lassen. Dennoch kann man wahrscheinlich sagen, dass das Gasshuku auch dieses Jahr ein voller Erfolg war. Denn ich wage zu behaupten, dass am Ende jeder etwas Neues gelernt hat, was ihm sowohl auf seinem Weg in der Kampfkunst als auch in seinem Privatleben weiterhilft. Hoffentlich finden wir uns auch nächstes Jahr wieder zusammen, zu einem einzigartigen Furyu-Gasshuku. Arthur Hauswald

Variatio delectat – Abwechslung erfreut

Dieser von Hendrik zitierte lateinischen Ausspruch des Philosophen Cicero ergab im Nachsinnen über das Gasshuku in Schellerhau für mich folgende Fragestellungen:

1. Strahlt ein Ort, an dem ich seit über 20 Jahren zum Trainingslager fahre Langeweile aus?
2. Fühlt sich eine Kampfkunst nach mehreren Jahrzehnten der Ausübung eintönig an?

Meine Antwort lautet zweimal: Nein . Auf die erste Frage bezogen stellte ich mit Erstaunen fest, dass sich der Ort der Übung (Mayenhof) nach 20 Jahren unwesentlich verändert hat. Mit Ausnahme der Kindersicherung am neuen Induktionsherd stehen Kücheninventar und der große Gemeinschaftstisch noch an derselben Stelle. Die Räume riechen noch wie einst und das Knarren der Dielen verrät den spät zu Bett Gehenden. Auch die Höhe des Grases und der Geruch der besonderen Kräuter und Leguminosen, die auf der Kammwiese wachsen, begleiten das jährliche Gasshuku. Doch Langeweile steigt nicht auf. Hat sich doch die Gruppe der Übenden verändert. Junge Menschen sind der Kindergruppe entwachsen. Manch eine übt erst seit wenigen Monaten oder einigen Jahren die Kampfkunst aus. Viele von uns haben Kinder bekommen und damit veränderte zeitlich und gedankliche Prioritäten. Der Lebensweg selbst hat die Abwechslung gebracht.

Und die Kampfkunst (zweite Frage)? Eine Monotonie stellt sich bei mir nicht ein. Mit Freuden lerne ich immer wieder neue Kombinationen, Bewegungen und Prinzipien. Der Blick in andere Kampfkünste und das Üben von Variationen begeistert und erhält die Neugier. So wechseln auch im Trainingslager neben den Lehrinhalten die Orte der Übung. Ob auf taufeuchter Hangwiese, einer sonnenwarmen, bemoosten Waldwiese, einem regennassen Schotterweg oder auf trockenem, unebenen Waldboden – neue Eindrücke entstehen. Zudem gestaltet jeder der drei Lehrenden die Unterrichtsstunde unterschiedlich. Neue Details und Erläuterungen warten auf. Der Weg mit einer Kampfkunst verändert sich mit den (Lebens-)Jahren. Sind die Übungen in den Mitzwanzigern vielleicht fitnessbetont und kämpferisch, sieht der Kampfkunstweg für Menschen in der zweiten Lebenshälfte oft anders aus, so meine Beobachtungen. Körperliche Einschränkungen lassen womöglich manche Bewegungen nicht mehr zu. Der eigene Stil der Kampfkunstausübung verändert sich. Lockerheit und Effektivität in den Techniken nehmen zu. Eine Leichtigkeit strahlt aus den Übungen, die nur durch langjährige Wiederholung der Prinzipien einen Weg durch den Körper in die Technik findet. Die Herausforderung für einen Lehrer gilt nun der Übungsstunde, die den Älteren und Erfahrenen noch neue Türen aufzeigt, ohne die Jüngeren zu überfordern und zu frustrieren. Und auch die jüngeren Übungsleiter versetzen sich in die Lage des älteren Anfängers, um das rechte Maß aus körperlicher und geistiger Übungsform zu finden. Diese Abwechslung in der Übung, durch den Menschen und dem Übungsort erfreut – mich. Angela Mögel