Yagai geiko im neuen Dōjō

Unser neues Dôjô am Stadtpark bietet viel Frischluft, wunderbare Frühlingssonne und ausreichend Sicherheitsabstand. Was will man mehr?

Sich nach draußen begebend
yagai geiko, yama geiko, hanabe geiko

Geübt wird idealerweise an Orten, die die Übung durch ihre Beschaffenheit befördern. Entweder wird der Übende von einem Kundigen an diesen Ort geführt oder er (empf-)findet selbst einen solchen Ort als günstig, so dass er sich entschließt, an dieser Stelle zu üben. Je nach Übungsinhalt, intendierter Übungsmethode sowie Übungsfortschritt und Anzahl der Übenden im Verhältnis zur Anzahl etwaiger Übungsleiter kann ein und derselbe Ort als der Übung förderlich oder hinderlich erachtet werden. Typisch sind eigens errichtete oder wenigstens gestaltete, geschlossene Räume, die durch die Abscheidung von der Umwelt die geistige Ablenkung der Übenden vom Übungsinhalt erschweren. Was „draußen“ passiert, ist rein räumlich entweder gar nicht oder nur abgedämpft wahrzunehmen. Die Geometrie und Einrichtung des Innenraums ist in funktionaler (d.h. gegebenenfalls auch ästhetischer und spiritueller) Weise am Übungszweck ausgerichtet. Namen für solche Orte sind Schule, Fitnessstudio, Kirche, Synagoge, Moschee, Atelier, Proberaum oder –bühne. Im Falle der japanischen Weg-Künste heißen sie dōjō: Wegort. All diesen Orten zu eigen ist, dass sie einerseits die im Innern erfolgenden Übungen gegen potentiell störende Einflüsse nach außen hin abschirmen, andererseits aber auch daraufhin angelegt sind, wieder verlassen zu werden, auf dass sich der Sinn bzw. der Wert der Übung jenseits des von „Laborbedingungen“ gekennzeichneten Sicherheitsraums im von Fährnissen geprägten Leben erweise. Der Leitsatz „Denke nicht, dass Karate nur im dōjō stattfindet“ des oben bereits zitierten Funakoshi Gichin zielt darauf ab und kann in der Transzendenz räumlicher Grenzen auch so verstanden werden, dass jeder Ort des Lebensweges potentiell geeignet ist, mit der gleichen Achtsamkeit, Gelöstheit und Konsequenz zu handeln, die das Üben im Wegort charakterisieren.

Dass (wenigstens) das geistige Überschreiten der Grenze zwischen dem Innen und Außen eben wegen jener Fährnisse durchaus problembehaftet sein kann, drückt derselbe Karate-Lehrer in einem weiteren Leitsatz aus: „Wenn ein Knabe durch das Tor hinausgeht, hat er hundertmal zehntausend Feinde.“ Was Funakoshi nicht sagt, spricht Friedrich Hölderlin aus: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Die Aufgabe von Sicherheiten birgt Risiken, deren Bewältigung bewusstseinserweiternd wirken und damit die Lebensqualität steigern kann. Die Schlussfolgerung ist, dass auch dieses Überschreiten, dieses Hinausgehen zu üben ist, indem man den ideal-sicheren, künstlich geschaffenen Wegort im Wortsinn hinter sich lässt und die Übung draußen an einem real-unsichereren, natürlich gewachsenen Wegort fortsetzt, kurz: indem man im Freien übt (yagai geiko). Die Aufgabe des ebenen Bodens, der vertrauten Raumgeometrie, der gewohnten Übungskleidung usw. usf. stellt die Frage nach der situativen Orientierungs- und Adaptionsfähigkeit des Übenden, die Frage nach dem Sich-Wieder-Einfinden des zeitweilig Weltabgewandten in die Welt, die Frage nach dem Sich-Selbst-Verstehen des Künstlers als Teil der Natur. Yama geiko (Üben auf einem Berg) und hanabe geiko (Üben am Meeresstrand) stehen dabei als Begriffe nur partes pro toto für das große Potential von sich eröffnendem methodischen Repertoire, an zu bewältigenden Risiken und erfahrbarer Ästhetik verschiedenster Übungsorte in der freien Natur.

Dieses Potential nicht als rücksichtslos auszubeutende Ressource, sondern als mit einer Verpflichtung versehenes Geschenk eines herausfordernden Übungspartners namens Natur zu verstehen und zu behandeln ist ebenfalls Ziel des yagai geiko. Dementsprechend hat sich der Übende erneut einem Fragenkomplex zu stellen und handelnd wieder von ihm zu lösen, welcher hier nur angedeutet werden kann: „Beeinträchtige ich durch mein Üben im Freien meine Umwelt unverhältnismäßig, etwa, indem ich Tiere in ihrem Lebensraum nachhaltig störe oder indem ich Pflanzen mit meiner Übung nachhaltig schädige?“ In umgekehrter Richtung ist zu fragen: „Beeinträchtigt mich meine Übungsumwelt unverhältnismäßig, so dass ich einen nachhaltigen Schaden erleide, oder kann ich diesen Pollenflug, diesen Regenschauer, diesen Mücken- oder Brennnesselstich übend ertragen?“.

Hendrik Felber, Auszug aus: Keiko. Aspekte kulturellen Übens (Neufassung 2020)