Furyu beim Königsbrücker Statdfest am 24.Juni 2023
Sich zeigend üben
enbu geiko, mohan geiko
Eine völlig andere Form des Übens „draußen“ ist enbu geiko, das heißt, Ausschnitte des Übungsprogramms einem lediglich betrachtenden, mehr oder weniger mit den Inhalten der Übung vertrautem Gegenüber vorzustellen. Je nach Bekanntheitsgrad des für ein yagai geiko gewählten Ortes ist ein unbeabsichtigtes enbu geiko wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher. Ereignet es sich, ist das Publikum als Teil der Natur zu begreifen und gleichermaßen die Frage einer eventuellen Beeinträchtigung von Betrachter und Betrachtetem handelnd zu beantworten. Lässt sich keine oder eine erträgliche Beeinträchtigung feststellen, kann die Übung fortgesetzt werden. Früher oder später wird der zufällige Beobachter mit seinen Eindrücken stumm weiterziehen oder versuchen, Kontakt aufzunehmen. Übende sollten ihre Übung unbeirrt fortsetzen, ohne das Gegenüber beeindrucken zu wollen und ohne es zu ignorieren.
Je nach Kunstform ereignen sich enbu geiko regelmäßig oder sporadisch im beiderseitigen Einvernehmen auch geplant. Im Falle des Theaters, der Musik und vergleichbarer performativer Künste sind enbu geiko, also die vorausbestimmten Aufführungen vor Zuschauern, zweifellos Kulminationspunkte der Übung. Diese Kulmination ist dabei im Wortsinn des lateinischen culmen (Gipfel) lediglich als Höhepunkt, also ein hoher Zwischenort auf dem Weg der Übung zu verstehen, nicht als deren Endziel. Nach der mühevollen Gipfelersteigung folgt der vielleicht weniger anstrengende, aber nicht minder gefährliche Weg ins Tal, im schlimmsten Fall auch ein Absturz.
Die Schwierigkeit von enbu geiko liegt im Sichtbarwerden der Übung bzw. den davon ausgelösten Emotionen des Betrachteten und des Betrachters. Harmonieren Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung, so fühlt sich der Übende in der Regel gestärkt für den bevorstehenden Weg, ganz gleich ob er zunächst weiter aufwärts oder schon ins Tal und weiter durch die Mühen der Ebene führt. Offenbaren sich jedoch unüberbrückbare Differenzen zwischen beiden Wahrnehmungsinstanzen, so ist es abhängig von der Akzeptanz des Betrachters beim Betrachteten, ob letzterer diese „Störung“ als für ihn irrelevant ignoriert oder aber zum Anlass nimmt, seine Übung zu beenden. Im Idealfall werden durch wiederholtes enbu geiko solche Wahrnehmungsdifferenzen zwischen Betrachter und Betrachtetem Schritt für Schritt ausgeräumt.
In den performativen Künsten, zu denen auch die Kampfkünste zählen, kulminiert der Übungsweg auf unterschiedlichen Höhen: die häufigste Form des enbu geiko ist im normalen Probenprozess oder Training die Demonstration von Übungsinhalten vor einem Übungspartner oder vor dem Lehrer, Regisseur, Choreographen. Im japanischen Theater unterscheidet man auf dem Weg zur Aufführung unter anderem hantachi geiko („halb stehendes Üben“, d.h. eine Probe, bei der die Spieler noch das Skript in der Hand haben, aber Gesten bereits spielerisch andeuten), tachi geiko („stehendes Üben“, d.h. eine Probe, bei der die Spieler bereits kostümiert sind und mit Requisitenattrappen spielen), sōgeiko (Komplettprobe vor der Bühnenprobe am Aufführungsort) und butai geiko (Bühnenprobe).
Typische enbu geiko mit Aufführungscharakter innerhalb der Kampfkünste sind solche aus Anlass von Graduierungsprüfungen oder Feiern innerhalb einer Übungsgruppe, ggf. auch aus Anlass von Festen im öffentlichen Raum. All diese enbu sind mit Herausforderungen an die Psyche verbunden, die man als Stress, Aufregung, Versagensangst, ggf. auch „Lampenfieber“ bezeichnen kann. Verknüpft mit der Angst vor dem fremden Gegenüber und seiner vermeintlichen Werturteile ist das stressende Bewusstsein, nur eine einzige Chance zu haben, das Geübte möglichst optimal unter Beweis zu stellen, Ursache von psychischen Blockaden (z.B. „black out“). Da Stress jedoch generell eine Begleiterscheinung des Kampfes ist, zeugt die bewusste, und wenigstens punktuelle Aufnahme von stressenden Faktoren in die Übungen einer Kampfkunst davon, dass das Thema Kampf als solches ernst genommen wird. Eine Sonderform des enbu geiko ist mohan geiko, bei der Lehrende für Lernende eine Beispielsdemonstration geben. Während Fortgeschrittene im Unterrichtsverlauf häufig Bewegungsdetails vorzeigen, um die Übenden auf die korrekte Ausführung hinzuweisen, wirkt das Vorzeigen einer kompletten Form oder eines ganzen Übungskomplexes nicht selten deutlich nachhaltiger auf den Betrachter. Im Idealfall ist mohan geiko ein lebendiges Beispiel der vom Übenden angestrebten Virtuosität.
Aus: Hendrik Felber: Keiko. Aspekte kulturellen Übens (epubli 2020)