Shochū geiko am Frauensee, 1.-9.August 2020

Sedimente

Ein Sediment ist dem Wortsinn nach etwas, das sich (zunächst in Bewegung befunden und schließlich von seiner Trägersubstanz ab-) gesetzt hat. Zu den bekannteren Sedimenten zählt Sand. Davon gibt es „jede Menge“ am Frauensee im Brandenburger Land, wie es in einem acht Tage alten Volkslied heißt. Während der Übungsstunden halten wir den Sand mit uns in Bewegung; im Verlauf der Sommerlagerwoche sedimentiert er nach und nach am Körper, in der Kleidung und unseren Betten. Immer mal wieder rafft sich eine(-r) zu einem Bungalow-Kehraus auf: der Stein des Sisyphos ist hier mit einer Korngröße von 0,063 bis 2 Millimetern nicht sonderlich schwer, aber in schier unendlicher Zahl zu bewegen. Deal with infinity steht in diesem Jahr auf unseren Shirts. Zu den weniger bekannten Sedimenten gehören wir selbst: je mehr Zeit vergeht, desto häufiger setzen oder lagern wir uns horizontal in den Pausen. Bis uns der Trainingsbeginn wieder in den Bewegungsfluss wirbelt, auch wenn es dabei eher selten zu Flow-Empfindungen kommt. So arbeiten wir uns morgens durch die festgelegten Übungen des Koryū Uchinādi Nyūmon, nachmittags durch die Waffenformen Koryū no kon und Koryū no sai, während abends Schlagen und Treten im Fokus der Bemühungen stehen. Ziel ist es u.a., nicht immer ein weiteres Formen-Sediment früherer kämpferischer Erfahrung (japanisch: kata) vom Ablauf her beherrschen zu können, sondern vielmehr durch die Verwirklichung von Prinzipien unsere Bewegungen, unser Sich-Bewegen, also: uns selbst zu formen. So wie sich ein Fluss in seinem Fließen durch Erosion und Sedimentation Gestalt gibt, korrigieren auch wir beständig: hier von dieser Qualität etwas weniger, dort von jener etwas mehr, bitte. Keine Wiederholung gleicht der vorangegangenen Ausführung. Und der Wiederholungen gibt es viele. Mō ichido. Mō ichido. Mō ichido. Deal with infinity. Auch das Sommerlager selbst befindet sich im Fluss und verändert sich. Zum einen über die Jahre: diesmal fehlen einige Freunde aus der Stammbesatzung, dafür treten neue hinzu, diesmal haben wir keinen Bodenkampf-Tag, dafür Mund-Nasen-Bedeckungen. Diskussionen über die KU-Verkehrssprache Englisch weichen solchen über die gendergerechte Ansprache der Übenden und aus dem gewohnten Abschlussgrillabend wird diesmal eine Pizza-Bestellung. Zum anderen verändert sich das diesjährige Lager auch im Verlauf : während zu Beginn der acht Tage noch der Musculus piriformis und (angeblich) platzende Lymphknoten im Mittelpunkt stehen, ist es am Ende die Frage „Was ist eine KU-Erwärmung und will ich sie anleiten?“. Während am Anfang die beschriebene Trainingsroutine streng ist, wird sie gegen Ende durch ein Theorie-Thema, eine Massage-Einheit und Training im Wasser variiert. Während am Anfang nur Einzelne auf Paddelbrettern den See erkunden, ist es zum Schluss die halbe Gruppe. – Freilich und zum Glück gibt es auch Dinge, die unverändert bleiben: die gemeinsame Anstrengung und das gemeinsame Singen, Olafs hilfreiche Korrekturen und die Nussecken von Jans Mutter, dazu Sand, Sand und nochmals Sand. Nun, da ich diese Zeilen schreibe, ist das shochū geiko 2020 schon wieder eine Woche „Geschichte“. So wie sich manches davon weiter im Fluss befindet, sedimentieren bereits Körpererfahrungen und Erinnerungen. Ein herzlicher Dank an all jene, die sie ermöglicht haben, insbesondere an Tanja, Olaf, Felix und Tom.

Hendrik Felber