Shochû geiko am Frauensee, 31.7.-8.8. 2021
Dezennien
„Kampfkunst-Erfahrung bemisst sich nicht in Jahren, sondern in Dekaden.“
(Marcus Neudert)
Ich weiß nicht mehr genau, wann ich dieses Bonmot aufgeschnappt habe. Es könnte sein, dass es im Jahr 2001 war, nachdem ich zum ersten Mal eine Shodan-Prüfung absolviert hatte. Nach diesem emotionalen Meilenstein begann mein zweites Karate-Dezennium zu einem Zeitpunkt, als mein Senpai und späterer Freund Marcus seines für sich gerade abschloss. 1981 hatte er als Kind das Karate-Training im südhessischen Bensheim unter Werner Lind aufgenommen und sich in den neunziger Jahren zu einem der kompetentesten Übungsleiter des Budo-Studien-Kreises etabliert. Der berufliche Werdegang führte den jungen Arzt nach der Jahrtausendwende nach Dresden, ein Glücksfall für die damals gerade aus der Taufe gehobene Kampfkunstschule Furyu: Marcus unterrichtete in seiner unnachahmlichen Weise die nächsten zehn Jahre Karate in Königsbrück, lehrte und lebte seinen Anspruch, kämpferische Expertise und Persönlichkeitsbildung zu vereinen, und prägte auf diese Weise eine ganze Reihe von Furyu-ka und ihre Auffassung von Kampfkunst nachhaltig. Retrospektiv wirkt es auf mich etwas ironisch, dass diese Etappe des gemeinsamen Weges nicht nach neun oder elf, sondern ausgerechnet nach zehn Jahren plötzlich und recht schmerzlich endete.
Ein weiteres Dezennium liegt nach diesem Ende und Neubeginn hinter uns: zehn Jahre üben wir Furyuka nun Koryu Uchinadi Kenpo Jutsu und denken am Frauensee bei Berlin im Sommerlager mit Gleichgesinnten darüber nach, wie eine solche Phase der Trainingsintensivierung angesichts unseres voranschreitenden Lebensalters in zehn oder zwanzig Jahren zu gestalten wäre, damit wir uns auch dann noch mit der Übung unserer Kunst fordern, unsere Gesundheit fördern, durch sie als Menschen wachsen und in Summe erfreuen können. Zugegeben: dieser weite Vorgriff gleicht dem Blick in eine trübe Glaskugel und gewinnt in erster Linie für die Ausrichtung der gegenwärtigen Übung an Wert. Nur wer heute da ist, nur wer heute übt, ist in der Lage eine Passung vorzunehmen: sich einerseits der Herausforderung einer konkreten Übung anzupassen und dadurch „die eigenen Grenzen zu besuchen“ (Olaf Krey sensei) sowie andererseits in Wahrnehmung dieser eigenen, sich täglich ändernden Limitationen die Übung selbst anzupassen: mehr oder weniger Wiederholungen, schnellere oder langsamere Bewegungen, mehr oder weniger Krafteinsatz, gonin butsukari geiko oder mitori geiko, Gespräche in der Mittagspause oder Erholungsschlaf usw. usf.
Nicht erst der Blick auf die Pandemie lehrt, dass vermeintliche Sicherheiten fragil sind und das Leben zu kostbar, um die sich heute bietende Gelegenheit zur gemeinsamen Übung im trügerischen Vertrauen auf eine morgige auszulassen. Freilich bedarf es dazu eines Aufbruchs, einer Bewegung, einer Anstrengung. Ohne Loslassen ist kein Weg zu haben. Es sei denn, man wandert diese Etappe – etwa dieses eine Mittwoch-Training im Furyukan, diese eine Woche KU-Sommerlager oder dieses eine Dezennium mit Marcus – gemeinsam, hilft und motiviert einander, teilt sich aktiv mit und wird so Teil eines größeren Ganzen, das man Wegerfahrungsgemeinschaft nennen könnte. Insofern danke ich all jenen, die mit mir die vergangenen Tage am Frauensee beim Üben, Essen, Singen, Tanzen und Lagerfeuern erneut zu einer sehr wertvollen Erfahrung gemacht haben, insbesondere Dinah, Felix, Jan, Olaf, Sascha, Tanja, Thomas und – im Herzen – Marcus. Gespannt bin ich darauf, wem ich im vierten Dezennium begegnen werde …
Hendrik Felber