Festival der Kampfkünste in Nürnberg am 14. und 15. September 2024
Meet Sensei YouTube
Was es nicht alles gibt – ein Festival für Kampfkünste und das zum 3. Mal. Erstmalig war ich dabei. Duc, mein guter Freund und Mitübender im Kickboxing und Brasilian Ju Jutsu (BJJ) in Dresden hat mich dazu eingeladen, mit ihm dahin zu fahren. Er ist ein wissbegieriger Schnelllerner, der sich jede Menge Kampftechnikvideos ansieht und nicht davor zurückschreckt, auch die abgefahrenen, verrückten Sachen auszuprobieren. Sein Herz ist ganz sanft, gutmütig und ehrlich. Uns verbindet der Spaß an der Sache, ein bisschen „Nerd-Talk“ und auch die Begeisterung für YouTube-Videos von Jeff („Jackie“) Chan, einem ehemaligen Profi-Mixed-Martial-Arts-Kämpfer. Duc und ich waren schon zusammen im März für eine Woche in Brasilien, zur Fortbildung in Marcos Schuberts BJJ und auch zum Urlaub. Dort haben wir auf dem Hotelzimmer immer mal eine Folge „Ultimate Self Defense Championship“ (USDC) angeschaut, bei der sich verschiedene Kampfkunst-YouTube-Größen wie eben Jeff Chan, Sensei Seth, Rokas Leo und Icey Mike in Selbstverteidigungsszenarien behaupten durften und Punkte für ihr Abschneiden von JurorInnen erhielten.
Es gibt so viel auf dieser und anderen Videoplattformen zu entdecken: nebst Unsinn und Unterhaltung auch gute Lehrvideos, so dass durchaus mit einem Augenzwinkern von Sensei YouTube die Rede sein kann. Trotzdem war es für mich etwas ganz anderes, nicht nur einen Clip mit Techniken oder Freikampfanalyse vom „Favourite-Martial-Arts-YouTuber“ zu sehen, darüber mit Duc zu sprechen, mal etwas davon im Training auszuprobieren, sondern etwa acht Stunden Jeff Chan (in kleinerer als erwarteter Lebensgröße) zu erleben, von ihm zu lernen, Korrekturen zu erfahren und auch mit ihm zu sparren. Die Themen seines Seminars waren Distanzkontrolle und meidende Kopfbewegungen. Zum Aufwärmen schleppten wir alle noch ein paar Matten ran und haben mit Schattenboxen sowie der ersten Schrittfolge solo begonnen. Schon ließ Jeff Chan eine Flut an Details ausströmen: „den Kopf und Oberkörper hier zur Seite neigen , mehr Gewicht auf dem Bein, Füße nach rechts drehen, der Arm hier, der andere dort, jetzt Schritt nach links hinten und jetzt will ich, dass ihr euch in diesen Winkel dreht…“ Irgendwie war es auch schön, dass sich mal wieder am Ende des Tages mein Hirn gefühlt in Spaghetti verwandeln sollte. Kurze Unterbrechung: „Guys, is anyone of you into Karate?“ Ich hob meinen Arm etwas verhalten. „So, what we are doing here, is a pattern like a (Jeff Chans Blick richtete sich fragend zu mir), is that right, a kata in Karate?“ Ich nickte zustimmend und Folgendes ist mir so im Kopf geblieben: „It is an idealistic way to teach how to move in a fighting situation. Even if it will not occur the same way in a fight or sparring, or maybe it could, still parts and details of the pattern can be applied.“ Ja, wir machen eigentlich alle das gleiche…
Wenn ich in einem (sportlichen) Kampf mit Schlägen und Tritten den Abstand halten kann, ihn „kontrolliere“, kann ich es vermeiden, effektiv getroffen zu werden und bestimme, wann ich die „Danger Zone“ betrete, um eventuell selber anzugreifen oder zu kontern. Hilfreich ist dabei, den Brustkorb des Gegenübers zu beobachten. Wenn der sich bewegt, muss ich mich auch bewegen oder mich auf eine andere Kampfstrategie einlassen. Den Kopf dabei aus der Angriffslinie zu bewegen, erschwert es, getroffen zu werden und ermöglicht es gleichzeitig, dass die Arme und Hände nicht abwehren müssen, sondern für den Gegenschlag bereit sind, helfen andere Öffnungen zu schützen oder das Gleichgewicht zu halten. Das alles erfordert wiederholtes schnelles Be- und Entlasten der Beine, viele kleine Schritte werden dabei gesetzt. „The most important thing about my head movement is at least 80 % footwork.“ Ducs und meine Beine waren am Ende des ersten Tages schwer und verkatert.
Rokas Leo, Kampfkunst-YouTuber, Schwarzgurt im Aikido, Regisseur und Partizipient der oben erwähnten USDC leitete am Sonntag etwa 5 Stunden Seminar, in denen wir uns spielerisch mit verschiedenen Phasen der Selbstverteidung auseinander setzten. Es ist unmöglich unschlagbare Patentrezepte anzutrainieren, jedoch gibt es nützliche Verhaltensweisen vor, während und nach der Auseinandersetzung.
- Davor gilt: „You should always choose safety“ und höre besser auf die Stimme, die dir etwas unsicher erscheinen lässt. Alle Menschen sind wohl in der Lage, unmittelbar bevorstehende Bedrohungen zu spüren. Oft wird solch ein Gefühl jedoch ignoriert oder aus gesellschaftlichen Konventionen übergangen, etwa dass es unhöflich wirken könnte, nicht in den Fahrstuhl mit einer suspekten Person zu steigen oder Abstand zu solchen zu suchen. Nicht nur das eigene Empfinden, sondern auch die Umgebung sollte aktiv wahrgenommen werden. Das erfordert etwas Training, kann dafür aber jederzeit, permanent im Alltag stattfinden. Wie könnte ich schnell aus einem Gebäude fliehen? Wie bewege ich mich durch beengte Räume, so dass ich doch möglichst viel vom Raum dabei sehe? Wie positioniere ich mich in Räumen? Welche Personen erscheinen mir suspekt und warum? Wer beobachtet mich gerade vielleicht? Wer hängt mit wem in einer Gruppe von Menschen wie zusammen? Welche Gegenstände in meiner Umgebung könnte ich zur Verteidigung benutzen? Wo sind die Hände anderer Menschen und welche Gegenstände halten diese? Wie kann ich den Menschen in meiner Umgebung helfen, und sei es nur, dass ich ihnen aus dem Weg gehe? Dies sind nur wenige Fragen, die darauf abzielen, die Aufmerksamkeit zu schulen. Die Kunst ist, zu verhindern, dass daraus Paranoia wird.
- Wenn es zur Auseinandersetzung kommt und in den persönlichen Raum (eine gedachte Blase von ca. 1,5m um den eigenen Körper) ungewollt eingedrungen wird, sollten die Hände als Schutzschild und Sensoren bereit vor der Brust oder dem Kopf sein, ohne dabei eine Aggression zu vermitteln. Bei weiterer Annäherung sollte sogar schon Kontakt zum Aggressor etwa an dessen Schulter aufgenommen werden, denn dann ist es einfacher, den Abstand beizubehalten oder doch zu einer Kampftechnik überzugehen. Wenn es mehrere Angreifende gibt, sollte ich nie in deren Mitte sein. Im Optimalfall ist nur eine Person vor mir, die anderen sind hinter dieser aufgereiht.
- So bald wie möglich sollte ich mich rasch aus der bedrohlichen Situation nehmen, Hilfe suchen und besonders wachsam dabei sein.
Wer beim Festival der Kampfkünste über den Tellerand schauen wollte, konnte auf dem Tisch eine reichlich gedeckte Tafel entdecken, ein viel zu umfassendes Buffet, an dem es nicht möglich ist, alles auszuprobieren. Wir mussten zwischen YouTubern, Axtwerfen, Kungfu, BJJ, Ringen, Bohurt, Iaido, VietVoDao, Gladiatorenschule, Fächertanz, Kalligrafie, Teezeremonie, Manga Zeichnen, und, und, und eine Auswahl zum Mitmachen treffen oder konnten in einer Pause mal vom Mattenrand aus verschiedene Trainingsbereiche parallel beäugen. Das lädt doch zum erneuten Verkosten ein.
Vielen Dank an das Team von Rebels Martial Arts, das diese Veranstaltung organisiert hat und besonders bedanken möchte ich mich bei Duc, denn ohne seine Unterstützung wäre ich weder dort noch in Brasilien gewesen und hätte dabei bei weitem nicht so viel Spaß gehabt.
Felix Hommel