Europäisches Gasshuku mit Ante Brännbacka kyôshi (7.Dan) in Tielt, 29.-31.5.2025

Tag 0:
Der Abschied daheim vor einem Trainingslager ist immer ambivalent: wehmütig und vorfreudig. Nach jenem sammelte Sascha mich vor meiner Haustür am Mittwochmorgen ein, um zusammen ins belgische Städtchen Tielt zu fahren. Mehr als 800 km liegt es entfernt, aber wir sind
auch jahrelang nach Veldhoven (NL) zum Euro-KU-Gasshuku gefahren; da sind doch 150 Kilometer mehr machbar. Tatsächlich kamen wir abgesehen von typisch belgischen Staus in und um Brüssel gut durch und konnten am frühen Abend spazierend die Gegend am Ziel erkunden.
Tag 1:
Angekommen an der wundervollen Trainingsstätte, Seikan Dojo, das unter Leitung von Shidoin Ludovic de Cuypere steht, sahen wir uns bekannte Gesichter. Manche habe ich zuletzt vor anderthalb Jahren beim Gassuku in Naha erblickt – manche vor noch längerer Zeit. Hanshi McCarthy begrüßte uns aus Okinawa über einen Video-Call und sprach uns motivierende Worte zu. Er führte uns vor Augen, dass wir ein Gesicht nur noch erinnern können: Bernd Otterstätter, Schwarzgurt im KU und weiteren Karate-Stilen, Dojoleiter des Koryukan Haßloch, Ehemann, Vater, ein starker Kämpfer, ein warmherziger Mensch war am 26. Mai 2025 wegen einer schweren degenerativen Erkrankung verstorben. Wir erinnern uns!

Der Tod ist die unausweichliche Konsequenz des Lebens. Nicht zu wissen, wann es soweit sein wird oder vielleicht gerade zu wissen, dass es sehr bald soweit sein wird, kann beängstigend sein. Es sollte jedoch nicht der Anlass sein, kein Leben zu leben, sondern sich immer wieder zu stellen, Anstrengungen auf sich zu nehmen, weiter zu kämpfen, zu üben und dadurch auch Genuss zu verspüren…
KU-Kihon-waza, eine kleine Vorschau zum Seminarthema am Tag 3 sowie „Käsikähmä“ waren die Schwerpunkte des ersten Tages. – Welcher Käse? Das finnische Wort bedeutet Kampf oder genauer soviel wie Handgemenge. Bei dieser eher spielerischen PartnerInnenübung des freieren Kämpfens
berühren sich die Hände in der Ausgangslage und es geht darum, Ziele wie den Kopf des Gegenübers zu berühren, am Körper zuzugreifen oder zu treten bzw. dieses zu verhindern.
Tag 2:
Wir setzten die Übungen des freieren Kämpfens auf Basis des Käsikähmä fort, verkürzten die Kampfdistanz weiter (Clinch) und eruierten verschiedene Optionen, den Kampf zu beenden. Dabei galt es, erstens verschiedene Positionen im Verhältnis zur angreifenden Person zu erreichen, wie bspw. an ihr vorbei zu kommen und dann von der Rückseite einen Gegenangriff auszuführen und, zweitens dabei hart mit Schlägen oder weich mit Kontroll- und Würgegriffen am Boden oder im Stand vorzugehen. Dies wurde durch Bert Mollens Unterricht in den Prinzipien der Wurftechniken (Nage waza) ergänzt.
Bevor noch einmal in der letzten halben Stunde durch eine Reihe anstrengender Drills mit Schutzausrüstung der Puls etwas beschleunigt und der Schweiß zum Fließen gebracht worden, wurden wir ProtagonistInnen des internationalen Kampfkunstwettbewerbs. Das sah so aus: Überlege dir einen üblichen Akt physischer Gewalt (habitual act of physical violence – HAPV). Enthält dieser einen perkussiven Impakt (Schlag oder Tritt) oder nicht? Hast du vor, darauf selbst „hart“ also mit Schlägen und dergleichen zu reagieren oder nicht? Aus den möglichen Kombinationen dieser Ausgangsparameter ergaben sich 4 Gruppen. Finde jemanden in deiner Gruppe und studiere ein passendes Szenario als Antwort auf den HAPV. Stelle dir nun die angreifende Person nur noch vor, aber führe die Bewegungen aus, womit eine Einzelübungsrepräsentation entstand (hitori gata). Finde nun noch einen blumigen bis mystischen Namen für deine Kata. Die vier Gruppen wählten unter sich nun das Beste aus, was sie zu bieten
hatten und schickten ihre VertreterInnen in die Finalrunde. Aus jener Gruppe, die ohne Schläge angegriffen wurden, jedoch die Situation gern hart beenden wollten (die sogeannten „Real-Bad-Asses“), trat Rodney Vandemoortele aka „Loudest-in-the-room“ an. Er wurde von Alexander, der
bis zu jenem Abend 31 Jahre lang Braungurt war, mit einem Griff zum Hals, wenn ich mich recht erinnere, attackiert. Boom – Slash – Tak, eine Reihe präziser, abgestoppter, andernfalls sicher verhängnisvoll wirkhafter Schläge neutralisierten den Angriff. Souverän führte er danach die Soloübung vor und offenbarte den eindrucksvollen Namen „fat bully gets a beating“. Unter lautem Applaus konnte er den Sieg zu den Gastgebern, nach Belgien holen und gewann Antes Buch „Motobu Choki Karate. My Art“ mit Signatur des Autors Hanshi McCarthy. Mindestens einen Grund gab es also neben dem des Abschlusses des Gasshuku am Abend zum Feiern.
Tag 3:
Lern- und Übungsgelegenheiten gab es jedoch noch am Samstag zum offenen KU-Seminar mit dem Thema „Motobu Choki Karate“. Der Nachkomme der adligen okinawanischen Motobu-Familie interessierte sich schon in jungen Jahren für Kampfkunst und erlernte das Uchinadi oder
Todi, Vorfahren des Karate. Verschiedene Kata kannte er, doch Naihanchi war seine Lieblingsform. Er soll sich trotz seiner stämmigen, muskulösen Statur agil und präzise bewegt haben und seine Techniken in reglementierten Kämpfen (Kakidamashi) als auch „auf der Straße“ erprobt haben.
Zu einem anderen berühmten Meister, Funakoshi Gichin hatte kein gutes Verhältnis, sogar Rivalität. Dies lag wohl in einer nicht ganz zufälligen Verwechslung beider Meister bei einem Wettkampf begründet. Aber ebenfalls lag es an der unterschiedlichen Auffassung, welche Aspekte des Karate als wichtiger empfunden wurden: pragmatische Kampftauglichkeit auf der Seite Motobu versus Erziehung von Geist und Körper auf der anderen. In einem seiner zwei publizierten Bücher wurden im Jahr 1926 zwölf kämpferische Situationen mit für diese Zeit verhältnismäßig vielen Fotografien illustriert beschrieben, die nun als die Motobu-Drills oder Motobu-Kumite bekannt sind, welche wir am Seminartag gelernt bzw. als „historische Wiederbelebung“ interpretiert haben.
Ich danke Sascha fürs (Mit-)Fahren, Unterstützen, gemeinsame Trainieren und auch Chillen. Besonderer Dank gilt Kyoshi Ante Brännbacka fürs Unterrichten und dafür, mir die Ehre erwiesen zu haben, mich sehr oft als seinen Uke gewählt zu haben. Ludovic De Cuypere und sein Team haben uns großartig versorgt und uns nicht nur mit belgischen Pralinen am Pausenbuffet sehr wohl fühlen lassen, wofür ich ebenso sehr dankbar bin. Schließlich möchte ich Hanshi McCarthy danken, denn ohne ihn wären wir sicher nicht so zusammengekommen und könnten uns nicht mit dieser
Kampfkunst befassen.
Felix Hommel



