Seminar mit Ante Brännbacka sensei am 16./17.November in Dresden
Carl Nilsson ist 51 Jahre alt, als er sein Buch „Systema naturae“ in überarbeiteter Fassung publiziert. Wie die vorhergehenden neun Editionen ist es nicht in der schwedischen Muttersprache des Autors, sondern im 1758 jedem europäischen Wissenschaftler verständlichen Latein verfasst. Nilssons Vater betonte als protestantischer Pfarrer seinen humanistischen Bildungsanspruch durch die Wahl des Beinnamens Linnaeus, eine Latinisierung des schwedischen Wortes für die „Linde“, die auf dem großelterlichen Bauernhof stand. Mit der Übertragung des Beinamens war dem Sohn die Hinwendung zur Natur und zur lateinischen Sprache gleichsam in die Wiege gelegt. In der zehnten Auflage entscheidet Carl von Linné, wie dieser Sohn später einmal genannt wird, jeder von ihm beschriebenen Pflanze und jedem Tier einen ebensolchen latinisierten Beinamen zu geben: die Erfindung der binären Nomenklatur gilt als Meilenstein botanischer und zoologischer Klassifikation.
Ein kleiner Abschnitt der „Systema naturae“ widmet sich „Papilio io“. Dieser Schmetterling muss den gebildeten Linné an die mythische Frau Io erinnert haben: Göttervater Zeus hatte sich in die Schöne verliebt, verwandelte sie jedoch notgedrungen in eine Kuh, um diese Liebe vor seiner eifersüchtigen Gattin Hera zu verbergen. Letztere bestellte, misstrauisch geworden, den hundertäugigen Riesen Argos, um diese Kuh zu bewachen. Hermes gelang es in Zeus‘ Auftrag, Argos mit einer Flöte in den Schlaf zu spielen und zu töten. Zu seinem Andenken schmückte Hera die Federn des Pfaus, ihres Lieblingsvogels, mit Argos‘ Augen. Nur weil Linné diesen Mythos kannte, konnte der Humanist solche Pfauenaugen auf den Flügeln eines Schmetterlings überhaupt „wiedersehen“ und dem Tier den Beinamen Io verleihen. Im Deutschen heißt der Falter folgerichtig „Tagpfauenauge“.
Ante Brännbacka ist 52 Jahre alt, als er sich nach längerer Pause wieder einmal nach Deutschland aufmacht, um Koryû Uchinâdi Kenpô Jutsu zu lehren. Wie bei vorherigen Gelegenheiten unterrichtet er dabei nicht im ihm vertrauten Finnisch, sondern im 2024 jedem europäischen Gymnasiasten verständlichem Englisch. Mit Linné teilt Brännbacka die schwedische Herkunft und die Liebe zur phänomenologischen Klassifikation, wobei sein Gegenstand nicht die Bio-, sondern die Hoplologie ist, die Wissenschaft vom Kämpfen. Inspiriert von den Analysen seines Hauptlehrers Patrick McCarthy hat Brännbacka ein System aus mehreren Zweikampf-Übungen entwickelt, dessen englischer Titel „Project 16“ den mathematisch-ordnenden Zugang zum Thema, die Prozesshaftigkeit des Kenntnis- und Fähigkeitserwerbs sowie den Wunsch nach globalem Austausch andeutet.
Ein solcher ereignete sich auch am vergangenen Wochenende in Dresden, wo Ante Brännbacka kyôshi, eingeladen vom Fûryûkan Königsbrück und assistiert von Olaf Krey kyôshi, einmal mehr seine Expertise im waffenlosen Kämpfen unter Beweis stellte. Knapp 50 Teilnehmer aus ganz Deutschland, Tschechien und – ja, auch Schweden! – durften von seinen profunden Kenntnissen im Grundlagentraining, Standkampf und der Bodenarbeit profitieren. Zudem examinierte Brännbacka sensei mit – zwar nicht hundert, jedoch bebrillten – Argusaugen die praktischen Leistungen mehrerer Dan-Prüflinge. Auf der Matte des Koryûkan Dresden ging es entsprechend „heiß“, jedoch durchaus auch freundschaftlich-familiär her. Befördert wurde Letzteres durch unerwartete Besuche wie die von den „Familienfreunden“ Thomas und Sabrina nebst zugehörigen Söhnen, Ingolf und – von einem Tagpfauenauge: mitten im November!
Abschließend gratulieren wir den erfolgreichen Prüfungsteilnehmern und danken Ante, Olaf sowie McCarthy sensei für ihre unermüdliche Lehre, zudem den Seminarteilnehmern für ihr Interesse sowie allen, die durch ihr Wirken im Hintergrund dieses Kampfkunstereignis ermöglicht haben. Jenen, die wir krankheitsbedingt leider vermissen mussten, rufen wir zu: „May the laws of science be with you!“ Hendrik Felber