Clinch-Seminar mit Olaf Krey kyôshi in Berlin, 19./20.7.2025

Wir üben in einer Lichtenberger Grundschule, die nach dem berühmten Zoologen und Verhaltensforscher Bernhard Grzimek (1909 – 1987) benannt ist und sich als Klima- und Umweltschule profiliert, laut Selbstdarstellung u.a. durch „Aktionen und Projekte zur Schulhofgestaltung und Nutzung des Schulgartens, zu nachhaltigem Konsum und nachhaltiger Ernährung [sowie] unserem Umgang mit Müll und was man daraus machen kann.“ Nun ja, der Blick in den Schulhof und die Umkleiden der Sporthalle offenbart eine nicht unerhebliche Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit, pädagogisch formuliert: Steigerungspotential.
Die Hoffnung, dass wir ein solches trotz fortgeschrittenen Lebensalters noch immer besitzen, veranlasst uns, zwei ältere Karateka aus Sachsen, zur Seminar-Teilnahme in Berlin. Dass Sascha und mir als Übungspartner lediglich zweieinhalb jüngere Herren aus Berlin sowie der Seminar-Leiter aus Augsburg zur Verfügung stehen, rückt den Personalschlüssel weg von jeglichen Grundschulvorgaben in die Nähe einer sächsischen Kinderkrippe: eine vollbeschäftigte pädagogische Fachkraft für fünf Kinder. Wir fühlen uns entsprechend optimalST [sic!] durch Olaf Krey kyōshi betreut, bekommen von ihm umfangreiche Rückmeldungen verbaler wie haptischer Art und genießen mit Leonhard und Steve zwei Tage den Clinch, mit Julius immerhin ein paar Stunden. Als eine von drei grundsätzlichen Kampfsituationen und Übergangsphase zwischen Schlag-/Trittdistanz und dem Kampf am Boden ereignen sich in ihr die meisten der von McCarthy sensei katalogisierten HAPV.
Time out! Die Nachfragen Steves, der nach Erfahrungen im Bujinkan Budō Taijutsu bzw. Ninjutsu erst seit zwei Monaten Koryū Uchinādi lernt, verdeutlichen, dass man nicht müde werden darf, scheinbar Selbstverständliches als eben nicht selbstverständlich zu erachten. Daher für den geneigten Leser: das Akronym HAPV steht für „Habitual Acts of Physical Violance”, und meint sinngemäß „gewohnheitsmäßig auftretende Handlungen körperlicher Gewaltausübung“ in zivilen Kontexten. Es wurde in der globalen Karate-Szene vor ca. 30 Jahren durch den Kanadier Patrick McCarthy etabliert, der aufgrund seiner umfangreichen Lernerfahrungen und Forschungsergebnisse die These vertritt, dass die im asiatischen Raum häufig anzutreffenden Solo-Übungen kämpferischer Art (japanisch: kata, chinesisch: hsing/taolu, koreanisch: poomsae/hyung) ihren Ursprung in Selbstverteidigungsverfahren gegen HAPV haben. Nach der Erarbeitung und Festigung dieser Methoden mit einem Übungspartner konnten sie auch allein memoriert werden, indem lediglich die Bewegungen der Verteidiger-Seite in komplexe Bewegungsformen gruppiert, choreografiert und so nachvollzogen werden konnten. Diese Grundannahme McCarthys ermöglicht eine sinnvolle Interpretation bis in die Gegenwart überlieferter Solo-Formen, auch von solchen, deren kämpferische Anwendung nicht mitüberliefert wurde.
So clinchen wir uns also gemeinsam durch das Sommerwochenende, umklammern und schubsen uns auf verschiedenste Weisen und trainieren Methoden, die uns aus unvorteilhaften Positionen in vorteilhafte, mindestens aber in Situationen mit gleicher Chancenverteilung verhelfen. So vergehen die Stunden, so rinnt der Schweiß, so haben wir Spaß an der gemeinsamen Anstrengung, während der gemeine Berliner das Wochenende an, auf oder sogar in der Spree genießt. Bernhard Grzimek, wenn er denn noch lebte, könnte daher bei der Subspezies homo sapiens ku-ka wohl recht besondere Verhaltensformen erforschen, nicht nur, wenn sie auf der Matte „rollt“, sondern auch beim Füllen einer Trinkflasche mit einer Dusch-Brause oder beim Versuch, mit einem Papierstrohhalm an das gewünschte Getränk zu kommen. Stets ist homo sapiens ku-ka um Steigerung seiner Selbstwirksamkeit bemüht, wenn auch nicht immer mit Erfolg.
Abschließend sei jenen gedankt, die dieses Bemühen überhaupt erst ermöglichen: Leonhard für die Einladung Olafs, eben jenem für seinen unprätentiösen Unterricht, Thomas für die Bereitstellung einer Schlafstatt, Sascha für die Fahr- und Übungsgemeinschaft sowie last not least eben jenem Kanadier, ohne den wir uns an diesem Sommerwochenende in Berlin wohl kaum begegnet wären.
Hendrik Felber


